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REHACARE nachgefragt: "Barrierefreiheit, wir brauchen einen Bewusstseinswandel im Handel"

Einkaufen mit einer Behinderung ist gar nicht so einfach: Denn fast jedes Geschäft ist nicht barrierefrei. Doch was genau bedeutet Barrierefreiheit im Einzelhandel eigentlich? REHACARE.de sprach mit Patrick Dohmen vom Verein EUKOBA e.V. über die Idee des LernLadens und über das Sensibilisierung-Projekt für Einzelhändler, Mitarbeiter und Auszubildende.

Herr Dohmen, wie ist die Idee des LernLadens entstanden?

Patrick Dohmen: Das Europäische Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit e.V. (EUKOBA) beschäftigt sich seit 2006 mit dem Thema Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung und hat hierzu ein Schulungsprogramm entwickelt. Im Rahmen des Projektes EINKAUFEN2030 hat das BMAS EUKOBA beauftragt, sich mit dem Thema "barrierefreies und inklusives Einkaufen" zu beschäftigen. Zur Aufgabenstellung gehören neben der Richtlinienerstellung auch die Bereitstellung von pragmatischen Lösungsansätzen. Zur Herangehensweise gehörte für uns auch die Analyse des Rahmenlehrplans für Azubis im Einzelhandel. Inhaltlich beschäftigt sich das Lernfeld 10 mit dem Umgang mit besonderen Kundengruppen. Schaut man sich dies genau an, stellt man schnell fest, dass Themen wie Barrierefreiheit und Menschen mit Behinderung nicht behandelt werden. Dies war für uns ausschlaggebend dafür, hier etwas Neues zu schaffen.

Wir wissen aus unserer Arbeit, das Bewusstsein nur dann geschaffen werden kann, wenn es gelingt, die Akteure, hier also Beschäftigte im Einzelhandel, mit den Problemen von Menschen mit Behinderung und Senioren zu konfrontieren. Unser Programm SENSE (Sensibilisierung durch Selbsterfahrung) geht diesen Weg sehr wirksam. So entstand die Idee, einen Lern- und Sensibilisierungsladen zu schaffen. Dieser wurde dann mit der Unterstützung der StädteRegion Aachen und der REWE West am Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung Lothringer Straße in der Aachener Beekstraße errichtet.

Wie barrierefrei ist der Einzelhandel derzeit?

Dohmen: Im Einzelhandel gilt wie in anderen Branchen: "Viel getan, noch viel zu tun!". Leider kommt es auch immer darauf an, wie der Angesprochene Barrierefreiheit definiert. Meist handelt es sich hierbei um die reine Berollbarkeit. Damit ist man aber weit entfernt von umfassender Barrierefreiheit, wie wir sie sehen: Nämlich einer Barrierefreiheit vom kleinen Kind bis zum Greis und einer Umsetzung entlang einer in sich geschlossenen Service- und Infrastrukturkette. Was das bedeutet? Ein barrierefreies Gebäude allein stellt nur eine Insellösung dar. Wenn die Zuwegung, der ÖPNV oder andere Gebäude nicht barrierefrei sind, nutzt dies nicht wirklich viel. Wenn Blindenleitsysteme an der Eingangstür beginnen oder enden, dann ist auch dies nicht zielführend. Aber die Verantwortung hierfür ist nicht beim Handel alleine zu suchen. Das wäre falsch. Zum einen fehlt es an einer Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Umsetzung von Barrierefreiheit. Des Weiteren fehlt es an barrierefreien Produkten (Stichwort Verpackung) und schließlich an einer Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure (zum Beispiel Kommunen, Verkehrsbetriebe, Wirtschaft).

Barrierefreiheit ist ein Querschnittsthema und gleichzeitig eine Generationenaufgabe. Die demografische Entwicklung in Deutschland verlangt ein sofortiges Handeln und kein zögerliches Vorgehen, wie wir es jetzt erleben. Wir brauchen einen Bewusstseinswandel im Handel und allen anderen Bereichen. Im Handel müssen wir uns darauf einstellen, dass sich in den nächsten Jahren die Kundengruppen und -strukturen völlig verändern werden. Die Anforderungen an Produkte werden sich ändern. Kann der Handel durch Barrierefreiheit heute Umsatzsteigerungen bis zu 12 Prozent erzielen, so werden diese Veränderungen in einigen Jahren 50 Prozent und mehr des Umsatzes ausmachen. Wer hierauf nicht reagiert oder entsprechend handelt, wird zu den Verlierern zählen. Der stationäre Handel sieht den drohenden Feind immer im Onlinehandel. Wir wundern uns zunehmend, warum in lokalen Aktionsprogrammen das Thema Barrierefreiheit kaum bis überhaupt keinen Einzug findet.

Inwiefern ist es daher wichtig, die Einzelhändler und Mitarbeiter entsprechend zu sensibilisieren?

Dohmen: Nun, ich habe bereits erwähnt, dass wir vor einer Generationenaufgabe stehen. Hinzukommt, dass in Bestandsimmobilien häufig bauliche Barrieren vorhanden sind oder der Denkmalschutz eine Beseitigung nicht zulässt. Ich weiß, dass ich jetzt von einigen Verbänden wieder gesteinigt werde, aber wir brauchen pragmatische Lösungen in Deutschland. Immer 150 Prozent zu fordern ist nicht zielführend, manchmal sind 90 Prozent mehr. Die Amerikaner und Briten machen es uns beeindruckend vor. Hierzu gehört vor allem gut geschultes und sensibilisiertes Personal. Wir müssen Hemmungen und Berührungsängste abbauen. Mitarbeiter müssen nicht sichtbare Behinderungen und Einschränkungen erkennen können und entsprechend Hilfestellung anbieten. Nicht sichtbar meint hier zum Beispiel Hörbehinderungen, Lernbehinderungen oder Sehbehinderungen, aber auch altersbedingte Probleme. Hier fehlt es sehr oft an Erfahrung oder es bestehen Ängste.

Unser LernLaden sieht zunächst unscheinbar normal aus. Er ist übrigens bewusst in einem nicht barrierefreien Gebäude untergebracht. Anhand von typischen und alltäglichen Verkaufssituationen verwandeln wir die Teilnehmer in Kunden mit Beeinträchtigung. Wie fühlt es sich an als erblindeter Kunde einzukaufen? Welche Probleme haben ältere Kunden mit Alterszittrigkeit beim Griff ins Regal oder beim Bezahlen? Wie verändert zum Beispiel der Graue Star den Blick auf die Produkte? Wir behandeln in unserem Laden aber auch Themen wie Lähmungen, Arthrose, Tinnitus, Autismus, Übergewicht bis hin zum Rückenschmerz. Seit Öffnung des Ladens haben mittlerweile rund 1.000 Schüler an unserer Sensibilisierung teilgenommen. Der Laden wird in Aachen über das Projektende bestehen bleiben und ist auch für andere Schulen zugänglich. Der Inhalt der Schulung ist ergebnisoffen! Wir entwickeln kontinuierlich neue Simulationen und Lernmodule.

Was bedeutet für Sie Inklusion?

Dohmen: Leider unterliegt der Begriff der Inklusion in der öffentlichen Wahrnehmung einem ähnlichen Missverständnis wie schon die Barrierefreiheit. Fragt man nach, hört man sehr oft: "Ach das ist doch, wenn behinderte und nicht behinderte Kinder in eine Schule gehen." Das ist aber eigentlich Integration. Inklusion ist für uns eine "Gesellschaft für Alle" – unabhängig von Alter, Geschlecht, Glaube, Bildungsstand, Sprache, Nationalität. Auch hier sehen Sie, dass dies eine Generationenaufgabe darstellt. Insgesamt gibt es für uns alle noch viel zu tun und viel zu verstehen.

Leonie Höpfner
REHACARE.de