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Barrierefreiheit geht jeden an und beginnt im Kopf!

Herr Dohmen, was bedeutet Barrierefreiheit?
Eigentlich ist diese Frage einfach zu beantworten: Die gesamtgesellschaftliche und branchenübergreifende Notwendigkeit, für alle zugänglich zu sein und die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen – vom kleinen Kind bis zum Greis. Stattdessen wird Barrierefreiheit vielfach mit Synonymen wie behinderten- oder rollstuhlgerecht gleichgesetzt. Die Beschränkung auf Menschen mit Behinderung, klassisch den 50-Jährigen im Rollstuhl, hat dazu geführt, dass sich 90 Prozent der Gesellschaft nicht angesprochen fühlen, weil sie scheinbar nicht betroffen sind. Diese Fehlinterpretation zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche und ist im Hinblick auf die demografische Entwicklung eine fatale Fehleinschätzung: Barrierefreiheit ist eine Generationenaufgabe, mit deren Umsetzung wir heute beginnen müssen.

Sie ist also auch als Prozess zu verstehen?
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Barrierefreiheit nicht heute oder in einem Jahr abgeschlossen werden kann. Tatsächlich wird sie nie zu 100 Prozent erreichbar sein. Jetzt geht es darum, den Grundstein für ein gesellschaftliches Umfeld in der Zukunft zu legen – in der wir selbst alt sind. Zur Lösung dieser Herausforderung benötigen wir vor allem eine gehörige Portion Pragmatismus und Kompromissbereitschaft. Damit meine ich ausdrücklich nicht die Möglichkeit, Mogelpackungen zu schaffen, sondern beispielsweise die Verständigung auf einheitliche Standards.

Die Nachfrage nach barrierefreien Lebens-, Wirtschafts- und Arbeitsräumen wird durch die demografische Entwicklung steigen. Welche Perspektiven gibt es für den ländlichen Raum?
Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik beläuft sich der Investitionsbedarf für öffentliche Infrastrukturen in Deutschland bis 2030 auf rund 54 Milliarden Euro. Die Zahl ist mit Vorsicht zu behandeln, denn zum einen macht die Studie keine Angaben zu privatwirtschaftlichen Investitionen und beschränkt die Schätzung auf baulich-technische Anpassungen öffentlicher Gebäude. Zum anderen lässt sie den ländlichen Raum außen vor. Im Fokus steht der barrierefreie Ausbau urbaner Strukturen. Das zeigt sich auch anderweitig: Prognosen für ländliche Räume finden bei Sozialraumgestaltern nur peripher bis keinerlei Berücksichtigung, Zukunftsperspektiven für die Entwicklung barrierefreier ländlicher Räume sind bisher nicht vorgesehen. Hier möchte ich Landräte und verantwortliche Akteure zum Nachdenken und Handeln aufrufen und dazu, sich nicht von vermeintlich hohen Umsetzungskosten erschrecken zu lassen. Barrierefreie Zugänge lassen sich auch einfach realisieren: Warum nicht beispielsweise Diskretionsräume im Parterre einrichten, die Behördenmitarbeiter für Bürgergespräche nutzen?

Neben stufenlosen Rathäusern gibt es eine ganze Reihe barrierefreier Ansätze im ländlichen Raum, auch von privaten Anbietern. Ist das nicht bereits mehr als ein Anfang?
Fragt man zehn Menschen „Was ist barrierefrei?“, dann erhält man meist elf Antworten, selbst wenn es zehn Menschen mit identischer Einschränkung sind. Genauso verhält es sich mit der Aussage „Wir sind barrierefrei!“ von Inhabern, Anbietern und Herstellern. Die Produkte oder Angebote sind häufig auf bestimmte Behinderungsarten ausgerichtet und zudem oft branchenspezifisch. Dies führt zu Insellösungen. Ein barrierefreies Museum ohne barrierefreie Infrastruktur ist wenig zielführend. Gerade in ländlichen Räumen umfasst Barrierefreiheit weit mehr als abgesenkte Bürgersteige oder Rampen vor öffentlichen Gebäuden. Es geht darum, alle Angebotsformen und –themen zu verbinden. Damit dies gelingt, braucht es ein Bewusstsein dafür, Barrierefreiheit als gesellschaftliche Aufgabe anzuerkennen. Erst dann sprechen wir eine Sprache und können anfangen zu arbeiten.

Sie machen in zwei LEADER-Bewerberregionen aktuell Barrierefreiheit zum Thema. Wie lässt sich dieses regional einbinden?
Im Rahmen des LEADER-Prozesses kann die Barrierefreiheit in den Regionen analysiert werden: Wie funktioniert sie bisher? Gibt es branchenübergreifende barrierefreie Serviceketten? Anschließend sollen Chancen und Herausforderungen bewertet, Schlüsselstrategien und Erfolgsfaktoren abgeleitet und kompakte Umsetzungsvorschläge konzipiert werden. Es gilt, viele Frage zu klären: Welche Voraussetzungen müssen von Kommunen und welche von privaten Anbietern erfüllt werden? Welche Wege und Konzepte sind zielführend und welche Angebote erfolgreich? Und wie können neue kooperative Ansätze umgesetzt werden? Konkret soll in den beiden Regionen erstmals ein Leitfaden für barrierefreie ländliche Räume entstehen, der kommunale und private Akteure mit Lösungsvorschlägen und Handlungsempfehlungen zur Umsetzung von Barrierefreiheit unterstützt. Außerdem möchten wir in den Regionen unseren BPASS® einführen – ein Ausweis für Anbieter von barrierefreien Objekten oder Dienstleistungen, der ähnlich aufgebaut ist wie der Energieausweis auf Haushaltsgeräten. Er identifiziert den Grad und die Güte von barrierefreien Angeboten für zehn Zielgruppen von Kindern über Senioren bis zu Rollstuhlfahrern und Menschen mit kognitiven oder sensorischen Einschränkungen. Aktuell erproben wir den BPASS® in der Modellregion Wesel.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Anja Rath.